Lena hatte den Flohmarkt nur aus Langeweile besucht. Es war ein grauer Sonntagnachmittag, die Luft war kühl und der Himmel verhangen. Zwischen verstaubten Lampen, alten Büchern und vergilbten Schallplatten fand sie wenig, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Doch als sie an einem Stand mit antiken Gegenständen vorbeiging, fiel ihr Blick auf einen kleinen, rostigen Schlüssel, der auf einer samtigen, dunkelblauen Unterlage lag.
Er sah nicht besonders wertvoll aus, aber irgendetwas an ihm zog Lena magisch an. Er war kunstvoll gestaltet, mit einem filigranen Muster auf dem Griff, das an verschlungene Ranken erinnerte. Die Verkäuferin, eine ältere Dame mit grauem Haar und durchdringendem Blick, lächelte leicht, als Lena den Schlüssel in die Hand nahm.
„Er scheint Ihnen zu gefallen“, sagte die Frau leise. „Dieser Schlüssel hat eine besondere Geschichte. Manche Dinge sollten verschlossen bleiben.“
Lena lachte nervös. „Er sieht einfach schön aus. Was öffnet er?“
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Das weiß niemand mehr. Doch er findet seinen Weg zu denen, die ihn brauchen.“
Lena bezahlte und steckte den Schlüssel ein. Auf dem Weg nach Hause konnte sie das seltsame Gefühl nicht abschütteln, dass der Kauf etwas mehr als nur eine spontane Entscheidung war. Der Schlüssel fühlte sich schwer in ihrer Tasche an, als ob er nicht aus Metall, sondern aus einer langen, vergessenen Vergangenheit geschmiedet worden wäre.
Zuhause angekommen, legte Lena den Schlüssel auf ihren Schreibtisch und betrachtete ihn nachdenklich. Sie fragte sich, welche Tür er wohl geöffnet hatte und wer ihn benutzt haben mochte. Als sie das Muster genauer untersuchte, fiel ihr auf, dass eine kleine Gravur auf dem Griff zu sehen war: eine Art Wappen mit einer Uhr, deren Zeiger auf Mitternacht standen.
In dieser Nacht konnte Lena kaum schlafen. Der Schlüssel ging ihr nicht aus dem Kopf, und so stand sie mitten in der Nacht auf, als ob sie von einer unsichtbaren Macht aus dem Bett getrieben würde. Sie nahm den Schlüssel und ging ohne nachzudenken in den Keller ihres alten Mietshauses, ein Raum, den sie nur selten betrat. Die Luft war feucht und muffig, der Betonboden kalt unter ihren Füßen.
Im schwachen Licht ihrer Taschenlampe entdeckte sie eine unscheinbare Holztür am hinteren Ende des Kellers. Diese Tür war ihr nie zuvor aufgefallen. Sie war alt, das Holz brüchig und von der Zeit gezeichnet, doch sie hatte ein robustes Schloss, das perfekt zur Form des Schlüssels passte.
Mit einem mulmigen Gefühl steckte Lena den Schlüssel ins Schloss und drehte. Zu ihrer Überraschung ließ sich das Schloss leicht öffnen, als wäre es erst gestern geölt worden. Die Tür schwang mit einem leisen Knarren auf, und vor ihr erstreckte sich ein schmaler, dunkler Gang, den ihre Taschenlampe kaum erhellen konnte.
Lena zögerte, aber eine unbändige Neugierde trieb sie voran. Der Gang führte in eine kleine Kammer, die aussah, als wäre sie vor Jahrhunderten eingerichtet worden und seitdem unangetastet geblieben. An den Wänden hingen alte Gemälde, deren Motive Lena seltsam bekannt vorkamen: Ein Mann, der einem Spinnennetz aus Zeitfäden entkam, und eine Frau, die eine Uhr in der Hand hielt, deren Zeiger rückwärts liefen.
In der Mitte der Kammer stand ein Tisch mit einem großen, antiken Buch, auf dessen Einband derselbe Wappen mit der Uhr abgebildet war. Lena blätterte vorsichtig durch die Seiten und las von Menschen, die in andere Zeiten gereist waren, von Schlüsseln, die nicht nur Türen, sondern auch Schicksale öffneten.
Doch bevor Lena mehr begreifen konnte, spürte sie, wie der Raum begann, sich um sie zu drehen. Die Luft schien zu flimmern, und das Licht wurde heller, bis es blendend weiß war. Als das Leuchten nachließ, fand sie sich auf einer gepflasterten Straße wieder, umgeben von Menschen in altertümlicher Kleidung. Pferdekutschen ratterten an ihr vorbei, und die Gebäude um sie herum sahen aus, als stammten sie aus dem 19. Jahrhundert.
Lena stand mitten in einer Stadt, die sie aus Büchern kannte, die jedoch seit langer Zeit nicht mehr existierte. Die Geräusche, die Gerüche, alles war so real, und doch wusste sie, dass sie nicht hierher gehörte. Der Schlüssel in ihrer Tasche fühlte sich jetzt warm an, als ob er sie hierher gebracht hätte.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war die alte Frau vom Flohmarkt, doch sie sah nun viel jünger aus, fast zeitlos. „Manche Türen“, sagte sie sanft, „führen nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit.“
Lena begriff, dass der Schlüssel sie nicht nur zu einer Tür geführt hatte, sondern auch zu einem Scheideweg. Sie wusste, dass sie irgendwann zurückkehren konnte, aber die Entscheidung, was sie in dieser Zeit erleben und erfahren würde, lag allein bei ihr.
Mit einem Lächeln trat Lena einen Schritt vorwärts. Die Vergangenheit hatte ihre Tür geöffnet – und Lena war bereit, hindurchzugehen.