Die unsichtbare Stadt

Es war ein gewöhnlicher Herbsttag, als Maria beschloss, einen Spaziergang zu machen. Sie lebte in einer kleinen Stadt, umgeben von dichten Wäldern und Hügeln, die sie seit ihrer Kindheit gut kannte. An diesem Tag jedoch hatte sie das Bedürfnis, tiefer in den Wald zu gehen, abseits der üblichen Wege. Der Wind raschelte durch die Blätter, und das Licht der untergehenden Sonne tauchte den Wald in ein goldenes Leuchten.

Während Maria immer weiter ging, entdeckte sie einen schmalen, von Moos überwucherten Pfad, der ihr bisher nie aufgefallen war. Neugierig folgte sie dem Weg, der sich zwischen hohen Bäumen hindurchschlängelte und tiefer in den Wald führte. Nach einer Weile lichteten sich die Bäume, und vor ihr öffnete sich eine Lichtung, die seltsam vertraut und doch fremd wirkte.

Dort, mitten im Wald, lag eine Stadt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Häuser waren alt, mit verschnörkelten Fassaden, Balkonen aus Schmiedeeisen und Fenstern, die wie dunkle Augen auf die Straße hinausblickten. Die Straßen waren gepflastert und sauber, aber es war niemand zu sehen. Es war, als ob die Stadt schon immer hier gewesen war und doch nie bemerkt wurde. Maria stand regungslos da und fragte sich, wie so ein Ort in der Nähe ihres Heimatortes existieren konnte, ohne dass jemand davon wusste.

Langsam ging sie weiter, die Geräusche des Waldes waren plötzlich verschwunden, und es war so still, dass Maria nur das leise Knirschen ihrer Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hörte. Sie versuchte, in die Fenster der Häuser zu schauen, doch hinter den Vorhängen war nur Dunkelheit. Eine seltsame Kälte kroch über ihren Rücken, als sie bemerkte, dass jede Uhr, die sie sehen konnte, auf die gleiche Zeit eingefroren war: fünf Minuten nach Mitternacht.

Maria rief nach jemandem, doch ihre Stimme verhallte in der Stille. Kein Echo, keine Antwort. Sie dachte daran umzukehren, doch der Anblick der Stadt faszinierte sie zu sehr. Überall gab es kleine Details, die sie nicht einordnen konnte – Schilder in einer Sprache, die sie nicht verstand, Laternen, die schummrig leuchteten, obwohl es noch hell war, und Statuen, die so lebendig wirkten, als könnten sie sich jeden Moment bewegen.

In der Mitte der Stadt entdeckte sie einen großen Brunnen, umgeben von verwitterten Steinstufen. Das Wasser war glasklar, und Maria beugte sich hinunter, um hineinzuschauen. Doch anstatt ihres eigenen Spiegelbildes sah sie etwas, das ihr den Atem raubte: Im Wasser spiegelte sich die Stadt, aber sie war voller Menschen. Männer, Frauen und Kinder in altmodischer Kleidung gingen geschäftig ihren Wegen nach, lachten und sprachen miteinander, doch keiner von ihnen schien Maria zu bemerken. Es war eine lebendige Welt, die sich direkt unter der Oberfläche des Wassers abspielte.

Fasziniert berührte sie die Wasseroberfläche, und ein kaltes Schaudern lief ihr über die Finger. In dem Moment, als ihre Hand das Wasser berührte, änderte sich die Stadt um sie herum. Die Straßen füllten sich mit Menschen, aber sie wirkten nicht lebendig. Sie waren blass, fast geisterhaft, und jeder schien in seine eigenen Gedanken versunken zu sein, als ob sie in einer endlosen Schleife gefangen wären. Maria versuchte, mit jemandem zu sprechen, aber niemand reagierte auf sie. Sie liefen an ihr vorbei, als wäre sie selbst unsichtbar.

Maria begann zu verstehen, dass diese Stadt nicht nur versteckt, sondern auch in der Zeit verloren war. Eine Stadt, die irgendwann von der Welt vergessen worden war und nun zwischen den Welten existierte – sichtbar und unsichtbar zugleich, eingefroren in einem Moment, der nie endete.

Als die Dämmerung einsetzte, wollte Maria zurückkehren, aber der Weg, den sie gekommen war, war verschwunden. Stattdessen führten alle Straßen immer wieder in die Mitte der Stadt, zum Brunnen. Panik stieg in ihr auf. Sie lief in jede Richtung, doch immer endete sie am gleichen Ort. Die Stadt ließ sie nicht gehen.

Maria setzte sich schließlich auf die Stufen des Brunnens und sah den geisterhaften Menschen zu, die ihre Runden drehten, immer wieder dieselben Wege nahmen und dieselben Bewegungen wiederholten. Sie war gefangen in einer Stadt, die nur manchmal sichtbar wurde – ein Ort, den man nicht verlassen konnte, wenn man ihn einmal betreten hatte.

Die Nacht brach herein, und die Uhren blieben auf fünf nach Mitternacht stehen. Maria wusste, dass sie nun Teil der unsichtbaren Stadt war, für immer gefangen zwischen der Zeit und dem Vergessen.

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