Der Fremde am Fenster

Es begann an einem kühlen Herbstabend. Lara saß wie gewohnt an ihrem Schreibtisch, vertieft in ihre Arbeit, als sie ein merkwürdiges Gefühl überkam. Es war, als ob jemand sie beobachtete. Sie blickte auf und sah ihn zum ersten Mal: einen Mann, der still vor ihrem Fenster stand.

Er stand im Halbdunkel, das Gesicht verborgen im Schatten, sodass nur seine Silhouette zu erkennen war. Lara erschrak, doch als sie blinzelte, war der Mann verschwunden. Sie schüttelte den Kopf und schob den Vorfall auf ihre müde Fantasie. Doch das Gefühl, nicht allein zu sein, blieb.

Am nächsten Abend war er wieder da. Dieselbe Stelle, dieselbe dunkle Gestalt. Lara starrte ihn an, und diesmal blieb er. Er rührte sich nicht, schien keine Bedrohung auszustrahlen, sondern einfach nur da zu sein. Als sie jedoch näher ans Fenster trat, war er erneut verschwunden.

Lara begann, sich Fragen zu stellen. Wer war dieser Mann? Warum stand er jeden Abend vor ihrem Fenster, regungslos und still? Und vor allem: Warum sah er aus wie ein verschwommener Schatten ihrer selbst?

Mit jedem Abend wurde es schlimmer. Der Mann tauchte nicht nur vor ihrem Fenster auf, sondern folgte ihr auch durch den Tag – immer im Augenwinkel, immer außerhalb ihres Blickfelds, aber nie ganz weg. Ein Gefühl der Unruhe hatte sich in ihrem Alltag festgesetzt, und Lara fühlte sich zunehmend von ihm bedrängt.

Eines Nachts beschloss sie, ihm auf den Grund zu gehen. Sie rüstete sich mit einer Taschenlampe und einem Messer aus und wartete darauf, dass er wieder auftauchte. Und tatsächlich: Pünktlich um Mitternacht stand er wieder da, schweigend und in die Dunkelheit gehüllt.

„Wer bist du?“, rief Lara, ihre Stimme bebend vor Angst und Wut. Doch der Mann antwortete nicht. Stattdessen trat er einen Schritt näher, und Lara spürte eine kalte Welle der Beklemmung. Es war, als ob sie in einen Spiegel blickte, der eine tiefere, düstere Version von ihr selbst zeigte.

Lara riss das Fenster auf und stürzte hinaus. Sie rannte durch den Garten, die Kälte biss ihr in die Haut, doch der Mann wich keinen Schritt zurück. Stattdessen trat er aus dem Schatten und offenbarte sein Gesicht: Ihr eigenes, nur älter und gezeichnet von Schmerz und Reue, als hätte dieses Spiegelbild alle ihre Ängste und Fehler in sich aufgenommen.

„Was willst du von mir?“, schrie Lara, doch die Gestalt verzog keine Miene. Statt einer Antwort begann sie, leise zu flüstern – Worte, die wie Echos aus Laras Vergangenheit klangen. „Es gibt Dinge, die du verdrängt hast“, sagte der Fremde, seine Stimme tonlos und rau. „Entscheidungen, die du bereut hast, Menschen, die du verloren hast.“

Lara spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Erinnerungen, die sie tief vergraben hatte, brachen plötzlich an die Oberfläche: das Versäumnis, sich von ihrem Vater zu verabschieden, bevor er starb; die zerbrochene Freundschaft, die sie nie wieder reparieren konnte; all die Momente, die sie sich nie verziehen hatte.

„Ich bin nicht du“, stieß Lara hervor. „Du bist nicht real.“

Doch der Fremde schüttelte den Kopf und trat noch näher. „Ich bin alles, was du zu vergessen versuchst. Ich bin deine verlorene Zeit, deine ungesagten Worte, deine ungelebten Träume. Du kannst mich nicht ignorieren.“

Lara trat zurück, die Kälte der Erkenntnis kroch durch ihren Körper. Sie war dem Fremden nie entkommen, weil er Teil von ihr war – eine Gestalt, die aus ihren eigenen Fehlern und Ängsten gewachsen war. Es gab keinen Weg, ihn loszuwerden, außer sich endlich ihren Erinnerungen zu stellen.

Mit einem letzten, tiefen Atemzug drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. Der Fremde blieb draußen stehen, doch sein Blick folgte ihr noch, bis sie die Tür hinter sich schloss. Die nächsten Tage verbrachte Lara damit, sich den Dingen zu stellen, die sie so lange verdrängt hatte. Sie rief alte Freunde an, besuchte das Grab ihres Vaters und schrieb all die Gefühle nieder, die sie nie ausgesprochen hatte.

Langsam, aber sicher, verblasste die Gestalt am Fenster. Lara sah ihn nicht mehr, als sie zur Arbeit ging, und er erschien auch nicht mehr in den stillen Stunden der Nacht. Es war, als hätte er seine Aufgabe erfüllt, indem er sie dazu zwang, sich selbst zu vergeben.

Eines Abends stand Lara wieder am Fenster und blickte in die Dunkelheit. Da war niemand mehr, nur die leere Straße und der kalte Schein der Straßenlaterne. Sie lächelte ein wenig und schloss das Fenster. Der Fremde war gegangen, und endlich, zum ersten Mal seit langem, fühlte sich Lara frei.

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