Das Flüstern des Waldes

Sophie war schon immer gerne im Wald gewesen. Es war ihr Zufluchtsort, ein Ort, an dem sie ihre Gedanken ordnen und dem Trubel der Stadt entfliehen konnte. Doch dieser Wald war anders. Seit einigen Wochen erzählten die Bewohner des nahegelegenen Dorfes von seltsamen Geräuschen, die man tief im Wald hören konnte. Manche behaupteten, es seien Tiere, andere sprachen von Geistern. Sophie jedoch konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Es waren wohl nur Geschichten, um Kinder vom Alleinsein im Wald abzuhalten.

An einem nebligen Samstagnachmittag beschloss sie, die Gerüchte selbst zu untersuchen. Mit festem Schritt und einer Taschenlampe ausgerüstet, betrat sie den Waldweg, den sie so gut kannte. Doch schon nach wenigen Metern schien sich die Atmosphäre zu verändern. Die Bäume, die sonst ruhig und vertraut wirkten, neigten sich schwer und düster über den Pfad, als ob sie etwas verbergen wollten.

Sophie ging tiefer in den Wald hinein, das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen das einzige Geräusch. Doch bald hörte sie es. Ein Flüstern. Kaum wahrnehmbar, leise wie der Wind, der durch die Äste fuhr, und doch irgendwie anders. Es schien aus allen Richtungen zu kommen, verschlungen und unverständlich, als ob der Wald selbst zu ihr sprechen würde.

Sie blieb stehen und lauschte angestrengt. Es klang nicht wie Menschenstimmen, aber auch nicht wie Tiere. Es war etwas dazwischen, ein wisperndes Murmeln, das ihren Namen zu rufen schien, immer wieder, aber gerade so leise, dass es nicht eindeutig zu identifizieren war.

„Hallo?“ rief Sophie unsicher, ihre Stimme schien vom Nebel verschluckt zu werden. Keine Antwort, nur das andauernde, schaurige Flüstern, das sich um sie rankte wie unsichtbare Fäden.

Sophie setzte ihren Weg fort, tiefer hinein, während das Flüstern immer lauter wurde. Die Geräusche schienen jetzt fast eine Melodie zu bilden, fremd und doch seltsam vertraut. Plötzlich sah sie eine Lichtung vor sich, die sie nie zuvor bemerkt hatte. In der Mitte stand ein uralter, gewaltiger Baum, dessen Rinde tief eingeritzte Symbole und Muster zeigte, die sie noch nie gesehen hatte.

Neugierig ging sie näher und legte ihre Hand auf den Stamm. Der Baum fühlte sich warm an, als ob ein Puls durch ihn fließen würde. Das Flüstern verstummte augenblicklich, und eine seltsame Ruhe legte sich über die Lichtung. Doch dann begann der Baum zu „sprechen“ – nicht in Worten, sondern in Bildern, die vor Sophies Augen auftauchten. Sie sah Menschen, die vor Jahrhunderten durch den Wald wanderten, Kinder, die um diesen Baum spielten, und eine alte Frau, die etwas in die Rinde schnitzte.

Sophie zog ihre Hand zurück und atmete schwer. Die Visionen verschwanden, aber das Gefühl, das sie hinterließen, blieb. Es war, als hätte der Baum ihr einen kurzen Einblick in seine Erinnerungen gewährt, in die Geschichte des Waldes, die nirgendwo sonst festgehalten war.

Sie spürte ein tiefes Band zwischen sich und dem alten Baum, als ob er ihr etwas mitteilen wollte, etwas, das lange verborgen geblieben war. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Lichtung und machte sich auf den Rückweg. Das Flüstern begleitete sie noch ein Stück, wurde jedoch mit jedem Schritt leiser, bis es schließlich vollständig verstummte.

Zurück im Dorf erzählte sie niemandem von ihrer Begegnung. Nicht, weil sie ihr niemand glauben würde, sondern weil sie spürte, dass das, was sie gesehen hatte, ein Geheimnis war, das nur ihr gehörte. Seit diesem Tag ging sie öfter in den Wald, nicht mehr nur zum Entspannen, sondern um dem Flüstern zu lauschen, das nur für sie bestimmt schien.

Denn der Wald hatte ihr etwas anvertraut. Etwas, das nicht in Worte zu fassen war, aber dennoch in ihrem Herzen widerhallte. Ein uraltes Flüstern, das niemand sonst hören konnte – und das sie niemals vergessen würde.

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