Das Geräusch in den Wänden

Die alte Villa stand abgelegen auf einem Hügel, umgeben von Nebel und dichten Bäumen, deren Zweige wie knorrige Hände zum Himmel ragten. Sie war alles, was Paul sich erhofft hatte – weit weg von der Hektik der Stadt, ein Ort der Ruhe, an dem er sich endlich auf seinen Roman konzentrieren konnte. Das Haus hatte Charme, dachte er, als er seine Koffer in das geräumige Wohnzimmer stellte. Die knarrenden Dielen und die leicht abblätternde Tapete waren Zeichen von Alter, von Geschichte.

Paul richtete sich schnell ein, stellte seinen Laptop auf den schweren Holztisch im Arbeitszimmer und ließ sich in den alten Sessel fallen. Stille. Endlich Stille. Die Inspiration würde bald kommen, das wusste er. Doch in dieser Nacht kam etwas anderes.

Gegen zwei Uhr morgens, als die Welt tief schlief und das Haus in völlige Dunkelheit getaucht war, hörte Paul es zum ersten Mal: ein leises, kaum wahrnehmbares Kratzen. Zuerst ignorierte er es, wälzte sich nur in seinem Bett und versuchte, die Geräusche als alte Rohre oder Holzverwerfungen abzutun. Doch das Kratzen hielt an. Es klang, als ob etwas in den Wänden lauerte – etwas Lebendiges.

Am nächsten Morgen wachte er müde und gereizt auf. „Wahrscheinlich Mäuse“, murmelte er zu sich selbst und beschloss, eine Falle aufzustellen. Doch die nächste Nacht brachte mehr als nur Kratzen. Jetzt hörte er auch ein leises Flüstern, als ob Stimmen hinter den Wänden lauerten. Paul richtete sich in seinem Bett auf, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Das Flüstern war undeutlich, als ob jemand versuchte, ihm etwas zu sagen, was er nicht ganz verstehen konnte.

Er sprang aus dem Bett, lief durch das dunkle Haus, das nur vom schwachen Licht des Mondes beleuchtet wurde. In jedem Raum war es dasselbe: das Kratzen, das Flüstern, das Pochen, als ob das Haus selbst lebte, atmete, ihn beobachtete.

Am dritten Tag begann Paul, die Struktur der Wände zu untersuchen. Er klopfte an die Holzvertäfelung, versuchte, den Ursprung des Geräusches zu finden, doch nichts schien ungewöhnlich. Er hätte den Gedanken verdrängen können, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass das Kratzen immer dann begann, wenn er sich hinsetzte, um zu schreiben. Es war fast, als würde das Haus ihn stören wollen, als ob es etwas zu sagen hatte.

Er begann, weniger zu schlafen. Die Nächte wurden länger, das Flüstern lauter. Eines Abends konnte er die Worte fast verstehen, doch sie waren verstümmelt, verzerrt, wie durch eine unsichtbare Barriere. Verzweifelt versuchte er, das Geräusch zu lokalisieren, und eines Nachts hörte er es lauter als je zuvor – hinter der Wand im Arbeitszimmer.

Mit zitternden Händen griff er nach einem Hammer. Der Verstand sagte ihm, es sei Wahnsinn, aber die Neugier und das Grauen trieben ihn an. Er begann, auf die Wand einzuschlagen. Das alte Holz splitterte, Staub wirbelte in der Luft, doch das Geräusch blieb. Das Kratzen wurde intensiver, das Flüstern lauter, und dann, mit einem letzten Hieb, durchbrach er die Wand.

Was er sah, ließ ihn erstarren.

Hinter der Wand war kein Hohlraum, keine verrotteten Rohre oder Nester von Mäusen. Da war etwas – etwas, das aussah wie verwelkte Hände, die sich durch die Wände drückten, als ob sie sich nach ihm ausstreckten. Und dann sah er sie: alte, fahle Gesichter, verformt und verstört, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten. Augen, die vor Leid und Wut glühten.

Er stolperte rückwärts, doch das Flüstern war jetzt klar. „Lass uns frei…“ sagte die Stimme, und mit einem Ruck begannen die Hände, sich weiter durch die Wand zu drängen. Der Raum füllte sich mit einer kalten, modrigen Luft, die nach Verwesung roch. Paul schrie auf, rannte aus dem Haus, doch das Geräusch verfolgte ihn. Das Kratzen, das Flüstern – es war nicht mehr nur in den Wänden, es war in seinem Kopf.

Und als er in den nächtlichen Wald rannte, drehte er sich noch einmal um und sah die Villa auf dem Hügel. Aus den zerbrochenen Wänden drangen nun Gestalten, Schattenwesen, die endlich frei waren.

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