Der Regen trommelte gegen die Fenster der alten Bibliothek, als der Bibliothekar Karl wie üblich den Tag mit dem Durchblättern alter Folianten begann. Diese Bibliothek war schon immer sein Zufluchtsort gewesen, ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien. Die Welt draußen, mit ihren ständigen Veränderungen, hatte für ihn längst an Bedeutung verloren. Die Bücher, die Geschichten, die sie erzählten – das war sein Leben.
Eines Tages, während er durch die staubigen Regale in einer selten besuchten Ecke der Bibliothek stöberte, stieß Karl auf ein Buch, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war in Leder gebunden, mit verblassten goldenen Lettern, die den Titel trugen: „Chronik der verlorenen Welt.“ Neugierig nahm er es vom Regal. Das Buch war schwer, und die Seiten waren vergilbt, doch das Papier fühlte sich eigenartig warm unter seinen Fingern an.
Karl setzte sich an seinen alten Holztisch und öffnete das Buch. Zu seiner Überraschung war die erste Seite leer. Und auch die nächste. Er blätterte weiter, bis er schließlich auf eine Seite stieß, die mit seltsamen, verschlungenen Zeichen bedeckt war, die er nicht entziffern konnte. Doch während er die Zeichen anstarrte, begannen sie sich vor seinen Augen zu verändern, sich in Worte zu formen, die er plötzlich verstehen konnte.
„Dies ist die Chronik einer Welt, die nicht sein sollte“, las Karl leise vor. „Eine Welt, die nur existiert, wenn jemand von ihr weiß.“
Seine Stirn legte sich in Falten. Die Worte waren sonderbar, doch etwas an ihnen zog ihn in ihren Bann. Er las weiter und erfuhr von einer Welt, die parallel zu der unseren existierte – eine Welt, die jedoch nicht von physischer Natur war, sondern aus Gedanken und Erinnerungen bestand. Eine Welt, die von den Vorstellungen und Träumen derer geformt wurde, die an sie glaubten.
Je mehr er las, desto lebendiger wurden die Beschreibungen. Die Orte in dieser Welt schienen real vor seinen Augen aufzutauchen: Eine Stadt, deren Gebäude aus reinen Emotionen gebaut waren; Wälder, die aus den Gedanken derjenigen wuchsen, die sich verirrt hatten; Flüsse aus vergessenen Tränen. Karl spürte, wie ihn ein unheimliches Gefühl der Vertrautheit überkam, als ob er diese Welt schon immer gekannt hätte, als ob sie ein Teil von ihm wäre.
Plötzlich bemerkte er, dass der Raum um ihn herum dunkler wurde. Die Kerzen, die er angezündet hatte, flackerten und erloschen nacheinander, bis nur noch das Licht des Buches den Tisch erhellte. Die Worte auf der Seite begannen zu verschwimmen, doch Karl konnte nicht aufhören zu lesen. Es war, als würde das Buch ihn zwingen, weiterzumachen.
Als er die letzte Seite aufschlug, stieß er auf eine Passage, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Der Leser dieses Buches ist der Schöpfer. Er allein kann diese Welt betreten, doch wenn er dies tut, kehrt er nie wieder zurück.“
Karl blickte auf, und was er sah, ließ ihn erstarren. Die Bibliothek um ihn herum begann zu verschwinden, als würde sie sich in Luft auflösen. An ihrer Stelle tauchte eine Landschaft auf, die er gerade erst gelesen hatte: Die Stadt aus Emotionen, die Wälder aus Gedanken, die Flüsse aus Tränen. Es war, als ob die Welt, die im Buch beschrieben wurde, nun aus den Seiten heraustrat und seine Realität verschlang.
Panisch wollte Karl das Buch schließen, doch seine Hände gehorchten ihm nicht. Er fühlte, wie er tiefer und tiefer in die Geschichte hineingezogen wurde, bis er das Gefühl hatte, selbst ein Teil davon zu werden. Die Worte auf den Seiten leuchteten hell, so hell, dass sie seine Sicht verschleierten.
Und dann, mit einem letzten Aufblitzen, war es vorbei.
Als der Regen aufhörte und die Sonne durch die Wolken brach, lag das Buch geschlossen auf dem alten Holztisch, als wäre nichts geschehen. Doch die Bibliothek war leer. Karl war verschwunden, als hätte er nie existiert.
Das Buch blieb zurück, nun ein wenig schwerer, seine Seiten fester verschlossen, als ob es darauf wartete, dass der nächste Leser es finden würde. Die Chronik einer verlorenen Welt, die nur existiert, wenn jemand von ihr weiß – und die den Leser für immer in sich aufnimmt.