Das verschwundene Lied

Es war ein regnerischer Nachmittag, als Elias durch die engen Gassen des Flohmarkts schlenderte. Der Geruch von altem Holz und feuchtem Papier hing in der Luft, und die Verkäufer versuchten verzweifelt, ihre Waren vor dem Nieselregen zu schützen. Elias, ein begnadeter Geiger, war auf der Suche nach etwas Besonderem – etwas, das ihn inspirieren würde. Seine Karriere steckte fest, und er brauchte dringend eine neue Idee, eine neue Melodie.

Dann sah er es: ein altes, verstaubtes Notenheft, das zwischen einem Stapel vergilbter Bücher lag. Der Einband war abgenutzt, und die Ecken waren zerfleddert, aber etwas daran zog ihn magisch an. Er blätterte darin und stellte fest, dass die Seiten mit hastig geschriebenen Noten bedeckt waren. Die Komposition war unvollständig, aber die wenigen Takte, die er überflog, klangen in seinem Kopf bereits wie ein Meisterwerk.

„Wie viel?“, fragte er den Verkäufer, einen alten Mann mit einem verschmitzten Lächeln.

„Für Sie, junger Mann, fünf Euro. Aber passen Sie auf – das Lied ist nicht für schwache Nerven.“

Elias lachte und griff in seine Tasche. Er nahm das Heft mit nach Hause, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann sofort, die Noten zu studieren. Die Melodie war seltsam, fast hypnotisch, und als er sie auf seiner Geige spielte, spürte er eine Gänsehaut auf seinem Arm. Es war, als ob die Musik eine eigene Kraft hätte, eine Energie, die ihn umhüllte.

Am nächsten Tag ging er in die Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Als er an einem Café vorbeikam, hörte er eine Frau plötzlich laut aufschreien. Sie starrte ihn an, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte.

„Das Lied…“, flüsterte sie. „Woher kennen Sie dieses Lied?“

Elias war verwirrt. „Ich habe es gestern gefunden. Warum?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich. Das ist das Lied, das mein Vater immer gespielt hat, bevor er verschwunden ist. Vor zwanzig Jahren.“

Elias spielte die Melodie erneut, diesmal in seinem Wohnzimmer. Mit jedem Ton schien die Luft um ihn herum dichter zu werden. Plötzlich sah er flüchtige Bilder vor seinem inneren Auge: eine Familie beim Abendessen, ein Kind, das lachte, ein Mann, der weinte. Es waren Erinnerungen, aber nicht seine eigenen.

In den folgenden Tagen bemerkte er, dass die Menschen um ihn herum begannen, sich seltsam zu verhalten. Ein Freund erinnerte sich plötzlich an einen lang vergessenen Geburtstag, eine Nachbarin an ihren ersten Kuss. Doch dann geschah etwas Beunruhigendes: Die Erinnerungen verschwanden wieder, und mit ihnen die Menschen, die sie geteilt hatten. Elias’ Freund war plötzlich nicht mehr auffindbar, und die Nachbarin hatte ihre Wohnung verlassen, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Elias erkannte, dass die Musik eine Macht hatte, die er nicht verstand. Sie konnte Erinnerungen wecken, aber sie konnte sie auch löschen. Und je mehr er das Lied spielte, desto mehr fühlte er, wie auch seine eigenen Erinnerungen verblassten. Er wusste nicht mehr, wo er geboren wurde, wie seine Mutter aussah, oder warum er überhaupt Geige spielte.

In einer letzten verzweifelten Anstrengung beschloss er, das Lied zu vollenden. Er setzte sich hin und schrieb die fehlenden Takte, wobei er sich von einer unbekannten Kraft leiten ließ. Als er das letzte Notenzeichen setzte, spielte er das gesamte Stück von Anfang bis Ende.

Die Musik füllte den Raum, und Elias spürte, wie sich etwas in ihm löste. Die Bilder in seinem Kopf wurden klarer, aber sie waren nicht seine eigenen. Er sah den alten Mann vom Flohmarkt, wie er das Notenheft schrieb, und er verstand: Das Lied war ein Gefängnis, eine Falle für Erinnerungen. Und Elias hatte es nun vollendet.

Als der letzte Ton verklang, war Elias allein. Das Haus war leer, die Straße draußen still. Er wusste nicht mehr, wer er war oder woher er kam. Aber er spürte, dass er nun Teil des Liedes war – ein ewiger Klang in einer Welt, die vergessen hatte.

Und irgendwo, auf einem Flohmarkt in einer anderen Stadt, lag ein neues Notenheft, das darauf wartete, gefunden zu werden.

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