Lukas starrte müde auf den Bildschirm vor ihm, seine Augen trocken und seine Gedanken zäh wie Honig. Die Uhr an der Bürowand zeigte 19:03, und das Büro war längst leer. Nur der immergleiche, dumpfe Hauch der Klimaanlage erinnerte daran, dass irgendwo im Gebäude noch Leben herrschte – auch wenn er es war, der dort allein festsitzte. Wie immer verlangte Herr Behrens, sein Chef, die Auswertung der Quartalszahlen „spätestens bis morgen früh“. Wie oft er diesen Satz wohl schon gehört hatte?
Plötzlich hörte Lukas Schritte, und die Luft in seinem Nacken schien mit einem Mal dicker zu werden. Er hob den Kopf, und da stand er: Herr Behrens. Aber etwas war anders. Es war, als ob ein Schleier von Lukas‘ Augen genommen wurde. Da stand nicht nur ein Mann. Nein – da stand ein Boss. Ein Boss wie aus seinen Videospielen, ein monströser Endgegner mit unheilvollen, roten Augen, die durch die halbdunklen Schatten glühten. Sein Boss hatte nicht nur die dunklen Ringe unter den Augen und den stechenden Blick; er war in eine dunkle, stachelige Rüstung gehüllt und hielt ein Schwert, das Lichtfunken im kalten Neonlicht des Büros sprühte.
„Haben Sie die Zahlen fertig?“, donnerte seine Stimme, und sie dröhnte wie das Brüllen eines Endgegners, das Lukas aus seinem Lieblingsspiel kannte.
Ein Schauer lief Lukas über den Rücken, doch in seiner Erschöpfung tat er das, was er sonst nie tun würde: Er griff imaginär nach seiner Maus, als wäre sie ein magischer Gegenstand, seine einzige Waffe gegen das Ungetüm, das ihn von Freiheit und Feierabend trennte. „Ich habe…“ Er sah zu dem Bildschirm und fand in der Ecke ein winziges Pixel-Schwert-Symbol, das nur er wahrzunehmen schien.
Beherzt klickte er darauf. Plötzlich flammte ein digitales Schwert in seiner Hand auf, und Herr Behrens – oder der Boss, wie er ihn innerlich nannte – zuckte zurück. In Lukas’ Gedanken war das Büro nun eine düstere Arena, und sein Chef war der letzte Endgegner seines Arbeitslebens.
„Herr Behrens,“ sagte Lukas mit einer Festigkeit, die er nicht kannte, „ich brauche mehr Ressourcen, um meine Arbeit zu machen. Und eine realistische Deadline.“
Herr Behrens blinzelte, und das Monsterhafte in ihm zerbröckelte für einen Moment, als sein Gesicht fast menschliche Züge annahm. „Gut. Bis übermorgen.“
Und damit verschwand das Schwert, und der Boss war zurück in die Form eines erschöpften Mannes geschmolzen, der durch die Büroräume hetzte. Lukas lächelte erschöpft, doch zufrieden. Der erste Bosskampf seines echten Lebens war gemeistert.