Der Garten der gefrorenen Zeit

Lina entdeckte den Garten an einem kalten Herbstmorgen. Zwischen den alten Eichen hinter ihrem Haus verbarg sich eine Lücke im Gestrüpp, durch die sie sich hindurchzwängte. Dahinter lag eine Lichtung, so vollkommen, dass sie den Atem anhielt.

Die Blumen standen in voller Blüte, als hätte der Sommer nie geendet. Ein Schmetterling hing bewegungslos in der Luft, als wäre er aus Glas. Die Blätter der Bäume raschelten nicht, obwohl kein Windhauch sie hielt. Alles war still.

Zögernd betrat Lina den Garten. Ihre Schritte klangen gedämpft, als wäre der Boden aus Samt. Sie kniete sich zu einer Rosenblüte hinunter und berührte vorsichtig die samtigen Blätter. Kein einziges welktes Blatt, kein Makel. Perfektion.

„Was ist das für ein Ort?“ flüsterte sie.

Dann bemerkte sie es. Ihre Hand fühlte sich seltsam schwer an. Sie zog sie zurück – doch sie bewegte sich langsamer, als sie wollte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Ihre andere Hand war ebenfalls träge, als würde sie in Honig getaucht. Sie wollte aufspringen, rennen – doch ihre Beine waren schwer wie Stein.

Mit wachsendem Entsetzen begriff sie: Der Garten hielt nicht nur die Zeit an – er hielt auch sie fest.

Lina wollte schreien, doch ihre Stimme versiegte, gefror in der Stille. Ihr Blick wanderte zu den Blumen, zu den Vögeln in der Luft – und zu den Schatten am Boden, die nie gewandert waren. Sie erkannte die Umrisse menschlicher Figuren, blass und durchscheinend, kaum mehr als vergessene Erinnerungen.

Sie war nicht die Erste.

Ihre Finger wurden eisig, ihr Atem war kaum mehr als ein Hauch. Mit letzter Kraft hob sie die Hand, versuchte, die Grenze des Gartens zu erreichen – doch ihre Bewegungen wurden langsamer und langsamer, bis sie völlig stillstand.

Die Zeit hatte sie eingeholt.

Und der Garten blühte weiter.

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