Der verlassene Jahrmarkt

Jonas hatte den verlassenen Jahrmarkt zum ersten Mal gesehen, als er noch ein Kind war. Mit seinen Eltern war er damals im Auto unterwegs, und für einen kurzen Moment hatte er durch das Fenster bunte Zelte und Fahrgeschäfte auf einer Lichtung im Wald gesehen. Doch als sie zurückkamen, war der Jahrmarkt verschwunden. Seine Eltern hatten es als eine Illusion abgetan, doch Jonas war sich sicher gewesen, dass er ihn wirklich gesehen hatte.

Jahre später, als er längst erwachsen war, kehrten die Erinnerungen an diesen merkwürdigen Jahrmarkt zurück. Etwas an dem Ort hatte ihn damals fasziniert und gleichzeitig verängstigt. Es fühlte sich an wie ein Geheimnis, das nur er entdeckt hatte. Und obwohl die Vernunft ihm sagte, es sei nur eine Kindheitsfantasie gewesen, ließ ihn der Gedanke nicht los. So beschloss Jonas, an einem verregneten Herbstabend zurückzufahren und nach dem Jahrmarkt zu suchen.

Der Wald, der früher so lebendig und farbenfroh war, wirkte nun düster und bedrohlich. Nebel hing schwer über den Bäumen, und der Wind trug das leise Rauschen von Blättern mit sich. Doch als Jonas tiefer in den Wald hineinfuhr, tauchte er plötzlich wieder auf – der Jahrmarkt. Die bunten Lichter blitzten durch den Nebel, und die Fahrgeschäfte drehten sich langsam, obwohl kein Mensch zu sehen war.

Mit einem unbehaglichen Gefühl parkte er sein Auto am Rand der Lichtung und stieg aus. Der Jahrmarkt lag vor ihm, still und doch lebendig. Jonas zögerte einen Moment, dann ging er los, an den Ständen vorbei, die mit farbenfrohen Bannern geschmückt waren, obwohl sie alt und verfallen wirkten. Es war, als ob der Jahrmarkt in der Zeit stehen geblieben war – wie eine alte Erinnerung, die nie verblasst war, aber auch nie ganz real geworden war.

Er hörte das leise Knarren eines Riesenrads, das sich träge drehte, obwohl niemand darin saß. Das Karussell spielte eine verstimmte Melodie, die vertraut klang, aber in einem langsamen, unheimlichen Rhythmus. Alles an diesem Ort fühlte sich falsch an, und doch konnte Jonas nicht umkehren.

Als er weiterging, blieb er vor einem Spiegelkabinett stehen. Die Glasfront war staubig, und das Licht, das von innen schimmerte, war schwach und flackernd. Ohne nachzudenken, trat er durch den Eingang. Innen war es still, und die Spiegel warfen verzerrte Reflexionen von ihm zurück. Jonas blickte in die Glasflächen, und für einen Moment sah er nicht sich selbst, sondern eine jüngere Version von sich – das Kind, das vor Jahren den Jahrmarkt gesehen hatte.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Reflexion veränderte sich, zeigte nicht mehr nur sein jüngeres Selbst, sondern auch Szenen aus seiner Vergangenheit – Momente, die er längst vergessen glaubte: Der Tag, an dem er sich zum ersten Mal verliebt hatte, und der Moment, als diese Liebe zerbrach. Die Nacht, als er das Krankenhausbett seiner Mutter verließ, ohne sich zu verabschieden. Und dann: eine Tür, die sich schloss, und dahinter – nichts.

Jonas trat zurück und stieß gegen einen weiteren Spiegel. Doch anstatt seine Gestalt zu reflektieren, zeigte dieser Spiegel eine andere Szene. Ein Mann, der genauso aussah wie er, stand inmitten der verfallenen Jahrmarktbuden. Seine Augen waren leer, und er schien nichts wahrzunehmen. Jonas spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Der Mann im Spiegel war er selbst, und doch… anders. Verloren.

Panik erfasste ihn. Er rannte durch das Labyrinth der Spiegel, während die Reflexionen immer verzerrter und unheimlicher wurden. Stimmen flüsterten seinen Namen, und das dumpfe, unheilvolle Schlagen einer Trommel begann zu erklingen, so leise und doch so eindringlich. Plötzlich stand er wieder draußen, keuchend und außer Atem.

Der Jahrmarkt war nun still. Keine Lichter flackerten mehr, kein Riesenrad drehte sich. Alles war totenstill, als ob der Ort sich in einen Albtraum zurückgezogen hatte, der nur auf Jonas gewartet hatte. Er drehte sich um und rannte zurück zu seinem Auto, seine Schritte hallten auf dem nassen Boden wider.

Doch bevor er das Auto erreichte, hörte er eine Stimme hinter sich: „Du kannst nicht zurückkehren, wenn du einmal eingetreten bist.“

Jonas drehte sich um. Vor ihm stand eine alte Frau in einem bunten, zerschlissenen Kleid. Ihr Gesicht war faltig, und ihre Augen schimmerten seltsam im Licht des Mondes.

„Dieser Jahrmarkt“, sagte sie leise, „zeigt den Menschen ihre tiefsten Ängste und Erinnerungen. Manche kommen hierher, um Antworten zu finden, doch die meisten bleiben gefangen. Du hast Glück, dass du noch rechtzeitig gehst.“

Jonas nickte stumm und stieg ins Auto, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Als er den Motor startete und auf die Lichtung hinausfuhr, verschwand der Jahrmarkt langsam im Nebel, so plötzlich, wie er erschienen war.

Während er in die Nacht hinausfuhr, war Jonas sich nicht sicher, ob er jemals wirklich wiederkommen würde. Doch eines wusste er: Der Jahrmarkt, der die Ängste der Menschen widerspiegelte, war nicht nur ein Ort – er war eine Wahrheit über das, was wir in uns tragen. Und manche Geheimnisse sollten vielleicht besser für immer im Verborgenen bleiben.

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