Die letzte Fähre

Der Nebel hing dick über dem Hafen, als Elias den rostigen Anleger betrat. Seine Hände zitterten, nicht nur wegen der Kälte. Die Ärzte hatten gesagt, er habe noch drei Monate. Drei Monate, in denen der Tumor ihn Stück für Stück auffressen würde. Doch hier, an diesem verwitterten Pier, gab es eine andere Option: die letzte Fähre. Einmal im Jahr, immer am Vorabend des ersten Frosts, legte sie ab. Niemand wusste, wer sie steuerte oder wohin sie fuhr. Die Einheimischen mieden den Hafen an diesem Tag. Elias aber hatte nichts mehr zu verlieren.

Die Fähre war klein und aus dunklem Holz, das moosüberwuchert und morsch wirkte. An Bord stand eine einzige Gestalt, eingehüllt in einen Mantel, der so grau war wie der Himmel. Der Fährmann hob nicht den Kopf, als Elias die Planke betrat. Kein Wort wurde gewechselt. Das Boot stieß leise vom Steg ab, als hätte der Nebel es losgebunden.

Die Fahrt dauerte Stunden – oder vielleicht nur Minuten. Die Zeit schien hier keine Rolle zu spielen. Das Wasser unter dem Kiel war nicht blau, nicht grün, sondern eine undurchdringliche Schwärze, die das Licht zu verschlucken schien. Elias spürte, wie die Kälte in seine Knochen kroch, doch er rührte sich nicht. Irgendwann teilte sich der Nebel wie ein Vorhang, und vor ihnen lag… nichts. Nur ein weiteres Nichts, durchsetzt mit funkelnden Sternen, als stünde die Fähre plötzlich mitten im Kosmos.

„Warum bin ich hier?“, fragte Elias endlich, seine Stimme rau.

Der Fährmann drehte sich langsam um. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, doch seine Augen waren jung, fast unnatürlich klar. „Sie sind nicht hier, um irgendwohin zu gelangen“, sagte er. „Sie sind hier, um eine Wahl zu treffen.“

„Eine Wahl?“, wiederholte Elias.

Der Fährmann deutete auf das schwarze Wasser. „Das ist kein Meer. Das ist das, was zwischen den Entscheidungen liegt. Jeder, der diese Reise antritt, hat eine letzte Wahl: weitergehen… oder zurückkehren.“

Elias starrte ihn an. „Das ist alles? Kein Himmel? Keine Hölle? Kein… Frieden?“

„Frieden gibt es nur in der Entscheidung“, erwiderte der Fährmann. „Wer zurückkehrt, trägt die Last des Wissens. Wer weitergeht, trägt die Last des Vergessens. Beides ist ein Ende. Beides ist ein Anfang.“

Elias blickte auf das Wasser. Irgendwo dort unten sah er Fragmente seines Lebens: seine Tochter, die ihn vor Jahren verstoßen hatte, als er sich in Arbeit und Schuld flüchtete. Seine Frau, deren Grab er seit der Beerdigung nicht mehr besucht hatte. Die leere Wohnung, die nach Chemotherapie und Einsamkeit roch.

„Was passiert, wenn ich zurückkehre?“, flüsterte er.

Der Fährmann lächelte, ein trauriges, wissendes Lächeln. „Dann kämpfen Sie. Nicht gegen den Tod, sondern für das Leben. Aber es wird nicht das Gleiche sein. Nichts ist jemals das Gleiche, nachdem man die Fähre gesehen hat.“

Elias’ Hände umklammerten die Reling. Er dachte an die Schmerzen, an die Nächte, in denen er sich wünschte, alles möge enden. Doch dann hörte er etwas – ein Lachen. Ihr Lachen. Seine Frau, als sie jung waren, als das Leben noch kein Kampf war.

„Ich… ich will zurück“, sagte er. Die Worte brannten wie Feuer in seiner Kehle.

Der Fährmann nickte, und ohne ein weiteres Wort drehte die Fähre. Der Nebel schloss sich wieder, die Sterne verblassten, und als Elias die Augen öffnete, lag er auf dem Anleger, seine Kleidung durchnässt vom Tau. Die Fähre war verschwunden.

Sechs Monate später saß Elias in einem Café, das Gesicht von der Behandlung gezeichnet, aber seine Augen lebendig. Auf dem Tisch lag ein Brief – eine Antwort seiner Tochter. Der erste seit zehn Jahren.

Manchmal, wenn der Wind vom Meer wehte, hörte er das leise Knarren von Holz. Und er wusste, die Fähre wartete. Doch diesmal würde er kämpfen.

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