Die Stadt ohne Namen

Der Regen prasselte monoton auf das Dach des Busses, während er durch die endlosen, nebelverhangenen Landschaften fuhr. Markus lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe und starrte in die graue Dämmerung hinaus. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, diesen Bus zu nehmen. Nach einer schmerzhaften Trennung und dem Gefühl, in seinem Leben festzustecken, hatte er sich entschlossen, einfach loszufahren – irgendwohin, wo ihn niemand kannte.

Als der Bus plötzlich zum Stehen kam, richtete sich Markus überrascht auf. Er hatte keine Stadt oder Haltestelle gesehen, und die Uhr zeigte mitten in der Nacht an. Der Fahrer, ein älterer Mann mit faltigem Gesicht und müden Augen, drehte sich zu ihm um. „Endstation“, sagte er knapp.

„Endstation?“ fragte Markus verwirrt. „Wo sind wir hier?“

Der Fahrer zuckte nur mit den Schultern und nickte in Richtung der Tür. „Sie müssen jetzt aussteigen.“

Zögernd griff Markus nach seinem Rucksack und stieg aus dem Bus. Der Regen hatte aufgehört, aber der Nebel hing schwer in der Luft. Vor ihm erstreckte sich eine Stadt, die aus der Zeit gefallen zu sein schien. Die Gebäude waren alt, ihre Fassaden verwittert und mit Kletterpflanzen überwuchert. Kein Licht brannte in den Fenstern, und die Straßen waren menschenleer.

Markus drehte sich um, um den Fahrer noch einmal zu fragen, wo er war, doch der Bus war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

„Großartig“, murmelte Markus. Er hatte kein Handyempfang, keine Orientierung und keine Ahnung, wo er sich befand. Die einzige Option war, die Stadt zu erkunden und vielleicht eine Unterkunft zu finden.

Er ging die gepflasterte Straße hinunter, vorbei an stillen Häusern und geschlossenen Läden. Die Stadt wirkte verlassen, doch sie war nicht verfallen. Alles war in einem merkwürdigen Zustand der Bewahrung, als hätte die Zeit hier aufgehört zu fließen.

Plötzlich hörte er ein leises Summen, das aus einer Seitengasse kam. Neugierig folgte er dem Geräusch und fand einen kleinen, unscheinbaren Laden, dessen Tür einen Spalt offen stand. Über der Tür hing ein Schild, auf dem in altmodischer Schrift „Anfragen“ stand.

Markus betrat den Laden. Es war dunkel, aber er konnte die Umrisse von Regalen erkennen, die mit allerlei Kuriositäten gefüllt waren. Ein alter Mann, gekleidet in einen abgetragenen Anzug, stand hinter einer Theke und lächelte freundlich.

„Willkommen“, sagte der Mann mit einer ruhigen Stimme. „Was suchen Sie?“

„Ich… ich weiß nicht“, stammelte Markus. „Ich bin hier gestrandet und habe keine Ahnung, wo ich bin.“

Der alte Mann nickte verständnisvoll. „Sie sind in der Stadt ohne Namen“, sagte er, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. „Die meisten, die hierherkommen, sind auf der Suche nach etwas, auch wenn sie es nicht wissen.“

Markus schauderte. „Eine Stadt ohne Namen? Das ergibt keinen Sinn.“

„Diese Stadt ist ein Ort der Übergänge“, erklärte der Mann. „Diejenigen, die hierherkommen, haben etwas in ihrem Leben verloren oder müssen etwas finden, bevor sie weiterziehen können.“

„Und was soll ich hier finden?“ fragte Markus skeptisch.

Der Mann lächelte weise. „Das können nur Sie wissen. Vielleicht ist es eine Antwort, vielleicht eine neue Richtung. Vielleicht müssen Sie sich selbst begegnen, bevor Sie weitergehen können.“

Markus wollte widersprechen, aber ein merkwürdiges Gefühl ließ ihn innehalten. Es war, als würde die Stadt ihn prüfen, als ob sie von ihm erwartete, dass er eine Entscheidung traf.

„Und wenn ich einfach weitergehen will?“ fragte er leise.

Der Mann nickte langsam. „Dann werden Sie feststellen, dass die Straßen dieser Stadt Sie immer wieder hierher zurückführen, bis Sie gefunden haben, was Sie suchen.“

Markus schluckte und schaute sich um. Plötzlich wirkte die Stadt nicht mehr verlassen, sondern lebendig – voller unausgesprochener Möglichkeiten und Antworten, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.

„Wie lange muss ich bleiben?“ fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Der alte Mann lächelte nur und sagte nichts mehr.

Markus spürte, wie die Last seiner Entscheidungen ihn wieder einholte. Vielleicht war es genau das, wovor er geflohen war – sich selbst zu stellen. Er atmete tief durch und verließ den Laden. Die Straßen der Stadt ohne Namen lagen still vor ihm, aber diesmal fühlte er sich bereit, ihnen zu folgen, wohin sie ihn auch führen mochten.

Und als er weiterging, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass er auf dem richtigen Weg war, auch wenn er das Ziel noch nicht kannte.

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